Tag 20 und 21: Wer mutig ist, der wird belohnt

Veröffentlicht am 28. April 2022 um 12:15

Heute ist schon Mittwoch. Gestern haben sich die Ereignisse so überstürzt, dass ich am Abend keine Kraft mehr hatte, um alles nieder zu schreiben.

Dienstagmorgen, wie fast immer, total kaputt aufgewacht. Kurzfristig bekomme ich einen Termin bei meinem Arzt. Ab heute Abend soll ich Amytriptylin nehmen, eine sehr geringe Dosis. 125 mg ist die Tageshöchstdosis. Ich bekomme 25mg verordnet. Das Medikament soll mir zu einem guten Schlaf verhelfen und Ängste lösen. Es ist ein sehr gut erprobtes und wirksames Medikament, mit geringen Nebenwirkungen. Jedenfalls wird mir das gesagt. Ich lasse das erst einmal so stehen. Wenn ich jetzt anfange den Beipackzettel zu lesen, dann bekomme ich garantiert alle Nebenwirkungen. Im Feldenkrais angekommen trifft mich fast der Schlag. Der Mann, der mich hier seit Tagen triggert ist heute in meiner Gruppe. Mein erster Gedanke ist Flucht. Mein zweiter sagt mir, dass ich mich der Situation stellen will. Ich versuche mich auf die, wunderbar entspannenden, Feldenkrais Übungen zu konzentrieren. Dies gelingt mir tatsächlich fast die ganze Stunde über. Am Ende der Stunde sollen wir immer fühlen, wie es uns geht. Ich spüre in meinen Körper und bemerke, wie sonst auch, dass ich fester auf der Erde stehe. Gerade gerückt und gleichzeitig mit dem Gefühl, als ob die Erdanziehungskraft mich ganz fest auf dem Boden hielte. Alle Muskeln und Gelenke scheinen schwerer und gleichzeitig ist es ein bisschen wie schweben. Feldenkrais kann man nicht erklären. Feldenkrais erlebt man. Normalerweise endet die Stunde immer damit, dass wir durch den Raum gehen, um noch einmal nachzuspüren. Heute ist es anders. Herr W., der Lehrer, bittet uns die Menschen im Raum, die uns begegnen, anzusehen und zu spüren, was das mit uns macht. Oh mein Gott. Welche Prüfung hat das Universum mir denn heute geschickt? Was will es mir sagen? Ich lasse mich darauf ein und schaue den Menschen in die Augen. Dank der Masken, die wir hier in den Räumen immer tragen müssen, sind es ja tatsächlich immer nur die Augen, auf die wir uns konzentrieren. Mein „Trigger“ kommt auf mich zu. Ich schaffe es seine Augen zu fixieren. Er blinzelt nervös und senkt den Blick. Gut gemacht, Daniela. Ein zweites Mal versuche ich seinen Blick zu finden. Wieder blinzelt er nervös und schaut weg. Ein Gefühl der Souveränität macht sich in mir breit. Ich fühle mich erleichtert, weil ich mich dieser enormen Herausforderung gestellt habe. Es ist ein wenig so, als ob mein Innerstes nun erkannt hat, dass keine Gefahr von diesem Mann für mich ausgeht.

Leichten Schrittes gehe ich in die Werkstatt, um mein Bild fertig zu stellen. Ich bin sehr zufrieden mit dem, was ich gemalt habe. Nur aus meinem Innern heraus habe ich etwas kreiert, ohne Vorlage, ohne Hilfe. Ich, die sich immer so schwer getan hat, mit allem Kreativem, außer mit dem Schreiben. In der Angstbewältigungsgruppe bin ich wach und konzentriert. In guten Gesprächen am Nachmittag lassen wir Frauen unseren Tag noch einmal Revue passieren. Müde, doch in Demut und tiefer Dankbarkeit, für die „Geschenke“ von heute, schlafe ich ein.

In den Mittwoch starte ich wieder müde. Ich hatte, aus Angst vor Kontrollverlust, das Medikament gestern Abend nicht genommen. Wie fast immer schlecht und unruhig geschlafen. Ich Angsthase aber auch. Was soll es schon Gefährliches mit mir machen?

Als ich mir dann meinen zweiten Kaffee hole sitzt „mein Trigger“ im Speisesaal. Ich entscheide mich, alles zu riskieren und spreche ihn an. Ich entschuldige mich für die Störung und frage ihn freundlich, ob er sich gestern in meiner Gegenwart unwohl gefühlt hätte. Ich hätte es so empfunden und ich wolle das gerne für mich klären. Erstaunt sieht er mich an und er antwortet mir, dass er nach der Feldenkrais Stunde immer so geflasht sei, dass er sich nur mit sich und nicht noch mit dem Außen beschäftigen könne. Sein Verhalten hätte absolut nichts mit mir zu tun. Er erzählt mir noch, dass er schon dreißig Jahre im Schichtdienst tätig sei, dass er bald sechzig wird und dass er keine Lust mehr auf seinen Job habe. Sein Dialekt klingt schwäbisch. Also keinerlei Ähnlichkeit mit meinem. Und auch, wenn das Aussehen, ja selbst die Art des Kleidungsstils, mich so sehr an den Mann von damals erinnert, so ist es jetzt gut. In diesem Moment kann ich diese dunkle Erinnerung ziehen lassen. Ich habe den Rat der Oberärztin Frau J. befolgt und meine Vergangenheit umarmt. Ich habe sie nicht eingeladen. Sie hat sich ungefragt auf mein Sofa gesetzt. Doch ich habe es zugelassen und konnte sie umarmen, konnte mich umarmen. Mir ist klar geworden, dass ich diesen Teil in mir nur annehmen und lieben kann, wenn ich akzeptiere, dass er für immer bleiben wird. Alles was wir an uns schlecht finden, nicht annehmen können, nicht lieben, wird irgendwann zu uns aus den Tiefen des Kellers heraufsteigen. Ich bin sehr dankbar dafür, dass ich hier die Möglichkeit bekommen habe mich mit diesem Trauma auseinanderzusetzen. Jetzt, so hoffe ich, werde ich es dauerhaft annehmen und vielleicht auch irgendwann lieben können.

Wir wünschen uns einen schönen Tag und noch eine gute Genesung, hier in der Reha. Geschafft, ich bin über mich hinaus gewachsen. Ich habe mich meinen Ängsten, die mich seit über dreißig Jahren begleiten, gestellt. Ich habe diese Herausforderung angenommen und ich habe sie mit Bravour gemeistert.

Alle Anwendungen danach lassen mich noch tiefer in meine Entspanntheit fallen. Ich fühle mich im Reinen mit mir. Es ist gerade alles gut, so wie es ist.

Am frühen Abend machen wir Frauen uns noch zu einem Spaziergang auf. Beim Italiener, direkt am Kurpark, finden wir ein sonniges Plätzchen und genießen den regionalen Wein. Ich schaue in die untergehende Sonne und fühle Glück.

 

Fazit des Tages: Wer nichts wagt, kann nichts gewinnen!

 

 

 

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