Heute steht als erster Tagespunkt das Therapiegespräch an. Ich habe in den letzten Tagen große Fortschritte gemacht. Als meine Therapeutin mich dafür lobt komme ich mir vor, als ob ich noch die Schulbank drücken würde. Ich weiß, dass ich, indem ich mich meiner Angst gestellt habe, einen sehr großen Schritt, in Richtung Heilung, getan habe, doch dafür gelobt zu werden, fühlt sich immer noch befremdlich an. Ich glaube ich wirke auf meine Psychologin taffer, als ich bin. Jedenfalls lassen mich das ihre Aussagen glauben.
Es stimmt, dass ich bezüglich meiner Ängste große Fortschritte gemacht habe. Doch was ist mit meiner Depression? Wie sieht es mit meiner Lebensfreude aus? Seit ein paar Tagen befinde ich mich im Flow, so sagt man doch, oder? Wenn etwas rund läuft, wenn sich etwas richtig und gut anfühlt und man von diesem Gefühl getragen wird. Doch wie lange hält das wohl an? Wie sieht es morgen aus? Habe ich, indem ich mich meinen Ängsten gestellt habe, auch die Depression besiegt? Leider ist dem, aus rein medizinischer Sicht, nicht so und ich werde bis ans Ende meiner Tage damit leben müssen. Aus meiner Sicht glaube ich, dass selbst die Diagnose „manische Depression“ nicht in Stein gemeißelt ist. Ich glaube, dass vieles möglich ist, auf dem Wege der Selbstheilung. In uns allen stecken Kräfte, die wir oftmals erst finden, wenn wir bis in die tiefsten Abgründe gefallen sind. „Eine Depression ist kein Beinbruch“, das hatte ich an anderer Stelle schon einmal geschrieben. Nein, das ist sie nicht. Das, was wir an Erbgut in uns tragen, beziehungsweise die Disposition zur Depression und die Traumata, die in uns stecken, das wird für immer bleiben, unverrückbar. Doch ich glaube, wenn wir liebevoller mit uns selbst umgehen und achtsamer durchs Leben gehen, dann haben wir einen gewissen Einfluss auf das Unverrückbare.
Schon meine Urgroßmutter litt an Depressionen. Kurz nach der Geburt meiner Oma Mütterlicherseits beginn sie Selbstmord. Ich habe nie erfahren wie meine Oma aufwuchs. Doch meine Mama verbrachte viele Jahre ihrer Kindheit in einem Waisenhaus. Meine Mama war, seit ich mich erinnern kann, depressiv. Ich will dieses Manifest, das in Stein gemeißelte, durchbrechen. Ja, ich bin das Kind meiner Vorfahren. Doch ich bin nicht ein lebloses Werkzeug in ihren Händen. Ich will und werde alles dafür tun, dass in meinem Leben wieder die Freude überwiegt.
Nach dem Mittagessen geht es zum Walken. Ich gehöre heute eher zum hinteren Drittel. Ich versuche mich nicht mitziehen zu lassen, sondern mein Tempo zu gehen. Damit fahre ich gut, in den letzten Tagen. Das Letzte was ich erreichen will ist, dass ich mich wieder in eine Überforderung begebe. Also möglichst, wie in Feldenkrais eingeübt, nicht bis an die Grenzen gehen, sondern noch um einiges darunter bleiben. Nach der Hälfte der Strecke stelle ich fest, dass mein Puls noch ein gutes Stück unter meinem Maximum geblieben ist.
Ohne darüber nachzudenken laufe ich los, also ich jogge. Langsam spüre ich wie sich mein Körper mit dem Tempo wohlfühlt. Nach einigen Minuten merke ich, dass ich keine Stimmen mehr hinter mir höre. Ach herrje, ich habe total vergessen, dass ich schon einige Jahre nicht mehr alleine in einem Wald gejoggt bin, weil ich Angst davor hatte. Was tun, wenn ich nun eine Panikattacke bekomme? Ich habe keine Skills dabei, keine Medikation. Ich erinnere mich an das, was ich in der Angstgruppe gelernt habe; drei Dinge sehen, drei Dinge hören, drei Dinge fühlen. Im Wald gibt es so einige, womit man sich beschäftigen kann, um nicht in Panik zu geraten. Es gelingt mir, mich zu entspannen und ich laufe weiter, bis zu einer Weggabelung. Bevor ich mich nun verlaufe, warte ich doch lieber auf die Gruppe.
Ein junger Mann, der mir schon öfter aufgefallen ist, weil er so introvertiert und ängstlich wirkt, kommt gejoggt und ich frage ihn nach dem richtigen Weg. Schon spurtet er davon. Den hole ich sicher nicht ein. Soll ich auf den Rest der Gruppe warten? Ich entschließe mich alleine weiter zu laufen und schaffe es, ohne weitere Anzeichen von Angst, wieder vor der Klinik anzukommen. Gut gemacht, Daniela. Ich bin sehr glücklich über meinen Erfolg. Der junge Läufer von vorhin steht noch da und wir kommen ins Gespräch. Lukas (Name geändert) leidet unter einer sozialen Phobie. Das heißt, er meidet Menschen. Seine Geschichte stimmt mich traurig. Erst dreiundzwanzig Jahre alt und mit einer solch großen Schwere und Traurigkeit auf seiner Seele. Ein klein wenig übernehme ich die Mutterrolle. Ich versuche ihm, indem ich ihm von meiner Zeit der sozialen Phobie erzähle, Mut zu machen. Ich habe das Gefühl, dass ich ihn erreichen kann. Er lächelt mehrfach und gibt mir zu verstehen, dass er sich in meiner Gegenwart wohlfühlt. Und das ist alles andere als selbstverständlich, bei jemandem mit seinem Krankheitsbild. Für den Abend verabreden wir uns im Haus zum Billardspiel. „Meine“ Frauen gesellen sich hinzu und wir haben offensichtlich Freude, an dem was wir tun. Nicht immer bringt das Tun Menschen mit Depressionen auch Freude. Dankbar beende ich recht früh diesen Tag und freue mich auf die Wanderung am Samstag.
Fazit des Tages: Wenn man die eigenen Fortschritte erkennt, kann man bei anderen Positives bewirken!
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